Dass der Brexit die britische Gesellschaft spaltet, davor hatten selbst prominente Politiker des Pro-Ausstiegs-Lagers während des Wahlkampfs gewarnt. Die Konservative Sayeeda Warsi etwa wechselte aus Protest gegen den zunehmend fremdenfeindlichen Ton der Debatte die Seite. Der britische Finanzminister George Osborne hatte Anfang Juni in einem Fernsehinterview kritisiert, dass die rechtspopulistische Ukip das EU-Referendum in eine Abstimmung über Einwanderer verwandelt habe.

Diese scheint nach dem Referendum in offenen Rassismus gegen umzuschlagen. Mehr als hundert Berichte über Fremdenfeindlichkeit hat der Rat der Muslime in Großbritannien in den vergangenen Tagen zusammengetragen. Unter dem Schlagwort #PostRefRacism oder #PostBrexitRacism finden sich in den sozialen Netzwerken zahlreiche Berichte über rassistische Vorfälle im ganzen Land. Demnach trifft es vor allem Polen – und damit jene Gruppe von Arbeitsmigranten, die das Brexit-Lager im Wahlkampf als Sozialschmarotzer verteufelt hat.

In der Grafschaft Cambridgeshire etwa ermittelt die Polizei, nachdem an einer Schule Karten mit dem Aufdruck "Raus aus der EU, kein polnisches Ungeziefer mehr" gefunden haben.

Shulem Stern

Seit dem Votum vom vergangenen Donnerstag sind laut einer Onlinestelle für Anzeigen von sogenannter Hasskriminalität 57 Prozent mehr Vorfälle gemeldet worden als noch vor vier Wochen. Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat Scotland Yard aufgerufen, besonders wachsam zu sein. Said Raad Al-Hussein, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, hat Großbritannien aufgefordert, gegen fremdenfeindliche Übergriffe vorzugehen. "Ich bin zutiefst besorgt über Berichte, wonach in den letzten Tagen Angehörige von Minderheiten und ausländische Bürger angegriffen und beleidigt wurden", erklärte Al-Hussein. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürften unter keinen Umständen einfach hingenommen werden. Die britischen Behörden müssten die Täter zur Verantwortung ziehen.

Mark Hamilton, im Rat der britischen Polizeichefs für das Thema Hasskriminalität zuständig, beschwichtigt unterdessen: So sei es meistens nach "großen nationalen oder internationalen Ereignissen" gewesen. Bisher sei die Zahl der Anzeigen dann aber relativ schnell wieder auf ein normales Niveau gesunken. (giu, 28.6.2016)